Kategorie: Filmbesprechung
"Almanya - Willkommen in Deutschland"
Yasemin und Nesrin Samdereli erzählen die Geschichte einer türkischen Einwanderfamilie als liebevolle Culture-Clash-Komödie.
Unterrichtsfächer
Thema
Deutscher oder Türke?
Der sechsjährige Cenk Yilmaz wird im Sportunterricht weder von seinen türkischen noch von seinen deutschen Mitschülern in die Fußballmannschaft gewählt, weil sie seine Zugehörigkeit nicht einordnen können. Cenk hat zwar eine deutsche Mutter, doch väterlicherseits stammt die Familie aus Anatolien – eine Gegend, die auf der Europakarte in seinem Klassenzimmer nicht mehr verzeichnet ist. Irritiert fühlt sich Cenk als Fremder ausgegrenzt. Also nutzt er das nächste Treffen der Großfamilie, um mehr über seine Identität zu erfahren. Sein Großvater Hüseyin steht dagegen kurz davor, deutscher Staatsbürger zu werden, hat sich aber überraschend in seinem Geburtsort ein Häuschen gekauft. Das will er nun der ganzen Familie zeigen. Auch wenn seine vier Kinder und deren Familien andere Pläne haben, willigen sie schließlich in die Reise ein. Sie wird die Familie Yilmaz zu ihren Wurzeln führen.
Culture-Clash-Komödie
Das deutsch-türkische Verhältnis haben die in Dortmund geborenen Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli bereits humorvoll für den TV-Spielfilm "Alles getürkt!" (Yasemin Samdereli, Deutschland 2002) oder als Drehbuchautorinnen für die TV-Serie "Türkisch für Anfänger" (2006) aufgearbeitet. In ihrem Kinodebüt "Almanya - Willkommen in Deutschland" verweben sie als Mitglieder der dritten Generation einer türkischen Einwandererfamilie auch eigene Erlebnisse in einer turbulenten Familienkomödie mit unerwartet tragischer Wende. Ein im Abspann platziertes Zitat von Max Frisch – "Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen" – verweist auf die Grundintention des Films: Der Lebensweg von Hüseyin Yilmaz steht prototypisch für den vieler Gastarbeiter/innen, die in den 1960er-Jahren ihre Heimat verließen. "Almanya" zeigt den Mut dieser Immigranten/innen, sich auf eine fremde Gesellschaft einzulassen, thematisiert aber auch die damit verbundene Frage nach der mit der eigenen Herkunft verbundenen kulturellen Identität.
Eine Lebensgeschichte
Neben der Rahmenhandlung in der Jetztzeit zeigt "Almanya – Willkommen in Deutschland" in mehreren Zum Inhalt: Rückblende/VorausblendeRückblenden die Etappen des Einbürgerungsprozesses der Familie Yilmaz. Ähnlich wie Solino (Deutschland 2002) von Fatih Akin verfolgt der Film das Leben einer Immigrantenfamilie über mehrere Jahrzehnte. Cenks Cousine, die 22-jährige Canan, übernimmt in Almanya den Part der Erzählerin. Sie erinnert zunächst an schwierige, aber auch unbefangene Zeiten in Anatolien: wie der Ziegenhirte Hüseyin, sich in seine spätere Frau Fatma verliebt und seine Familie 1964 verlässt, um als Gastarbeiter für das deutsche Wirtschaftswunder zu schuften. Dabei kontrastiert der Film die beiden Länder mit liebevoll gezeichnetem Lokalkolorit, unterstreicht Zeittypisches durch stimmige Zum Inhalt: Production Design/AusstattungAusstattung, Zum Inhalt: FilmmusikMusik und Zum Inhalt: FarbgestaltungFarbgebung.
Fiktion und Fakten
Wichtig ist Yasemin Samdereli dabei die Klärung des Begriffs "Gastarbeiter", den sie unter Verwendung von schwarz-weißem Archivmaterial damaliger Wochenschauen umreißt. Besonders die ärztliche Musterung der Neuankömmlinge, die wie Vieh mit einem Stift markiert werden, bleibt haften. Rasch mischt sie jedoch Fiktion unter die Fakten: Die Begrüßung des millionsten Gastarbeiters hat sich am Bahnhof Köln-Deutz 1964 zwar so ereignet, in "Almanya" überlässt jedoch Hüseyin dem Portugiesen Armando Rodrigues den Vortritt und führt sich als gutmütigen Mann ein, der um die Ungerechtigkeit der Welt weiß. Ebenso geschickt inszeniert Yasmin Samdereli filmsprachliche Ideen, wenn etwa Figuren in Fotos plötzlich lebendig werden oder sich während einer Beerdigungsszene zu den erwachsenen Protagonisten/innen ihre kindlichen Figuren von einst gesellen. Von diesen magischen Momenten zehrt die Komödie ebenso wie von Wortwitz und Authentizität.
In der Fremde
Fremdsein wird in "Almanya – Willkommen in Deutschland" als Herausforderung betrachtet. Der Film würdigt, wie der nachziehenden Familie ihre Assimilation gelingt. Sicher gibt es anfangs Vorurteile – Deutschland wird mit Kälte, Kartoffeln und Dreck verbunden. Und Hüseyins und Fatmas Kinder fürchten sich vor Menschen, die einen ans Kreuz genagelten Nackten anbeten. Doch die ersten Deutschen erweisen sich als freundlich und hilfsbereit, auch wenn die Familie Yilmaz noch kein Deutsch versteht. Um ihre Verwirrung nachvollziehbar zu machen, aber auch um die Fremdheit der Sprache zu markieren, sprechen ihre ersten deutschen Kontaktpersonen im Film eine fiktive, urkomische Kunstsprache, die auch einem deutschsprachigen Publikum unverständlich bleibt.
Eine Familie aus Deutschland
Über die Jahre verläuft die Integration der Familie Yilmaz vorbildlich. Sie muss sich weder Vorurteilen erwehren noch anderer migrationstypischer Problematiken, wie sie etwa im Film Zum Inhalt: Die FremdeDie Fremde (Feo Aladag, Deutschland 2010) geschildert werden. Familie Yilmaz lebt weder stark traditionell, noch ist sie tief in der türkischen Gemeinschaft verwurzelt. Sie ist nicht übermäßig religiös und akzeptiert die deutsche Schwiegertochter ebenso wie den Gugelhupf auf dem Kaffeetisch. Der Verlust der alten Heimat führt zu keinem gesteigerten Unbehagen. Doch als der kleine Cenk plötzlich seine Identität hinterfragt, beginnt die Erforschung der Familiengeschichte. Dabei wird jedem Familienmitglied die Bedeutung der eigenen Kultur und Identität bewusst – eine der Stärken dieses Films. Allerdings verliert sich "Almanya – Willkommen in Deutschland" auf dem Weg dahin beinahe in den vielen innerfamiliären Ereignissen, die auf die Ähnlichkeit der Probleme von Deutschen und Türken/innen verweisen. Durch die humorvolle Idealisierung der gelungenen Integration der Familie klammert der Film die seit längerem in Deutschland geführte Integrationsdebatte aus und entschärft sie zugleich.