Kategorie: Filmbesprechung
"Rhythm is it!"
Seinen krönenden Abschluss fand das erste große Education-Projekt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung des damals neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle am 28. Januar 2003: Begleitet von dem renommierten Orchester, tanzten 250 Schüler/innen und Studierende im Alter zwischen acht und 20 Jahren "Le sacre du printemps" von Igor Strawinsky vor 3000 Zuschauern/innen in der Treptower "Arena".
Unterrichtsfächer
Thema
Seinen krönenden Abschluss fand das erste große Education-Projekt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung des damals neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle am 28. Januar 2003: Begleitet von dem renommierten Orchester, tanzten 250 Schüler/-innen und Studierende im Alter zwischen acht und 20 Jahren Le sacre du printemps von Igor Strawinsky vor 3000 Zuschauern/innen in der Treptower "Arena". Bis zu Beginn der Proben mit dem britischen Choreografen Roystoon Maldoom knapp zwei Monate vor dieser Aufführung hatten nur wenige der Jugendlichen Kontakt mit klassischer Musik oder Tanz gehabt, geschweige denn Bühnenerfahrung sammeln können.
Work in progress
Die Zum Inhalt: Regisseure Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch waren von Anfang an bei der Entwicklung dieses außergewöhnlichen Projekts mit der Kamera dabei. In ihrem Zum Inhalt: Dokumentarfilm geben sie Einblicke in Maldooms Workshops an den verschiedenen am Projekt beteiligten Schulen und die Orchesterproben der Berliner Philharmoniker, porträtieren drei der jungen Tänzer/-innen und ihren Entwicklungsprozess während der Arbeit mit Maldoom und Rattle. Deren Lebenswege und Arbeitsphilosophien stellen sie ebenfalls vor.
Die Konzeption
Das Education-Konzept stammt aus Rattles Heimat Großbritannien. Nachdem er 2002 die Leitung der Berliner Philharmoniker übernahm, begreifen sich diese als kulturelle Institution, die auch gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Das Orchester möchte seine Arbeit aus der elitären Situation des Konzertsaals heraus auch zu den sozialen Brennpunkten der Stadt bringen und ein möglichst breites Publikum für eine aktive und kreative Auseinandersetzung mit Musik begeistern. Die am "Sacre"-Projekt beteiligten Kinder und Jugendlichen sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen und kommen aus 25 verschiedenen Nationen, verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Schultypen. Viele von ihnen leben in schwierigen Verhältnissen, ihre Eltern kümmern sich nicht um ihre Ausbildung und Erziehung. Entsprechend niedrig ist das Selbstvertrauen der Schüler/-innen zu Beginn des Projekts und entsprechend schwierig gestaltet sich die Arbeit mit ihnen.
Kunst und Sozialarbeit
Roystoon Maldoon hat schon viel Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen aus sozial schwachen Verhältnissen und arbeitet seit über 30 Jahren als Choreograf an der Schnittstelle von Kunst und Sozialarbeit. Er hat unter anderem Tanzproduktionen mit Straßenkindern in Südafrika und Peru realisiert und schon oft miterlebt, wie seine Schützlinge ihr Leben durch ein Musik-Projekt grundlegend ändern konnten. Neben dem Training von Bewegungsabläufen fordert Maldoom von seinen Eleven schonungslos Disziplin, Konzentration, selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln als lebensnotwendige Tugenden ein, die viele von ihnen bisher nie vorgelebt bekommen haben und sich erst mühsam aneignen müssen.
Drei Jugendporträts
Anhand von drei Protagonisten/-innen, ihren Schwierigkeiten mit ihrem Leben zu Anfang der Proben und ihrer Wandlung während der Arbeit mit Maldoom, zeigen die Filmemacher das erstaunliche Potenzial eines solchen tanz- und musikpädagogischen Projekts: Die 14-jährige Marie ist zunächst eine unmotivierte Hauptschülerin, die um ihren Schulabschluss bangen muss, ihre Zukunftsängste aber hinter Gleichgültigkeit versteckt. Der 15-jährige Olayinka ist Kriegswaise aus Nigeria und lebt erst seit wenigen Monaten in Deutschland, wo er sein Leben allein gestalten muss. Der 19-jährige Martin ist zwar sehr reflektiert, hat aber bisher keinen Weg für sich gefunden, seine Berührungsängste anderen Menschen gegenüber abzubauen. Er arbeitet ganz bewusst an dem Projekt mit, um sich damit weiterentwickeln zu können. Alle drei durchleben in wenigen Wochen eine rasante Persönlichkeitsentwicklung. Durch das Tanztraining und Maldooms respektvollen Umgang mit ihnen haben sie eine neue und stärkere Beziehung zu ihrem Körper und zu sich selbst bekommen. Marie ist jetzt fähig, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, Olayinka fühlt sich besser in seine neue Heimat integriert und Martin kann sich anderen gegenüber mehr öffnen. Die "Wir haben's geschafft"-Chöre aller beteiligten Jugendlichen nach der Aufführung in der "Arena" verdeutlichen, dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelt.
Zwei Künsterbiografien
Der Grund dafür, dass sich die Künstler Maldoom und Rattle so für die Förderung und Ausbildung junger Menschen einsetzen, ist in ihren eigenen Lebensläufen zu finden. Beide beschreiben ihre Kindheit und Jugend als eher schwierig, sie haben daher großes Verständnis für die verworrene, entfremdete und isolierte Gefühlswelt von jungen Menschen. Rattle sieht sich rückblickend selbst als komischen Vogel, der sich permanent verstellen musste, um nicht ausgegrenzt zu werden. Maldoom konnte in jungen Jahren niemandem mehr vertrauen, nachdem alle seine Bezugspersonen entweder gestorben waren oder ihn auf andere Art verlassen hatten. Rattle wie Maldoom haben erst durch die Kunst zu sich selbst gefunden.
Ein Plädoyer zum Handeln
Den Filmemachern Grube und Lansch ist mit ihrem Film nicht nur ein überzeugendes Plädoyer dafür gelungen, was praktische musische Erziehung leisten kann. Durch den dramaturgisch gezielten Einsatz der Strawinsky-Musik gewinnt der Film eine ganz besondere Dynamik (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik), die spürbar macht, wie die Jugendlichen immer weiter vom Sog des engagierten Education-Projekts mitgerissen werden und ihre anfängliche Abneigung gegen die für sie sperrige und befremdliche Musik verlieren. Auch kommen durch die Musik Momente besonderer emotionaler Tragweite stärker zum Ausdruck, beispielsweise wenn die Protagonisten/-innen biografische Schlüsselerlebnisse durch die Kunst schildern. Bleibt zu hoffen, dass auch viele bildungspolitisch Verantwortliche diesen mitreißenden Film sehen und sich von ihm zum Handeln anstecken lassen. Denn, so Maestro Rattle, Kunst ist kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit wie das Atmen und Trinken.