Die Legende vom großen Sieg beginnt mit einer herben Schlappe: In einem Punktspiel der Oberliga West verliert Rot-Weiß-Essen gegen die Alemannia in Aachen mit 0:1. Eine Brieftraube trägt die Nachricht nach Essen-Katernberg, wo man Niederlagen gewohnt ist. Der elfjährige Matthias Lubanski, ein schmächtiger Knabe in zerschlissenen Kniehosen, hilft sich mit einem Stoßseufzer. Es ist der Frühling des Jahres 1954, im Ruhrgebiet rauchen wieder die Schlote, doch das Leben ist ein hartes Brot. Mutter Christa Lubanski betreibt eine Gastwirtschaft, die älteren Geschwister Bruno und Ingrid helfen gelegentlich aus. Vater Richard Lubanski befindet sich neun Jahre nach Kriegsende noch immer in sowjetischer Gefangenschaft. Matthias hat ihn noch nie gesehen. Doch er hat ohnehin einen Ersatzvater gefunden, den Stürmer von Rot-Weiß-Essen und Nationalspieler Helmut Rahn. Für ihn trägt er nicht nur die Tasche zu den wichtigen Heimspielen, er ist auch eine Art Maskottchen. Nur wenn Matthias dabei ist, macht Rahn dem Jungen weis, kann er gewinnen. Diese Anerkennung macht ihn stolz, denn Matthias selbst ist ein erbärmlicher Fußballer. Beim Spiel auf dem Bolzplatz, wo eine schmutzstarrende Filzpille als Ball herhalten muss, kommt er nicht einmal an den Mädchen vorbei.
Verlierer auf der ganzen Linie
Im mangelnden Selbstbewusstsein von Matthias spiegelt sich auch das gesellschaftliche Klima der frühen Fünfzigerjahre. Während Bundestrainer Sepp Herberger seine Kicker in München-Grünwald auf die Weltmeisterschaft vorbereitet, ist die Freude auf das Turnier in der Schweiz zu Hause gebremst: "Wir haben den Krieg verloren, wir verlieren auch dieses Spiel." Die Rückkehr von Richard Lubanski passt in dieses Bild. Das Lagerleben hat ihn gebrochen. Die Familie und das neue Land erkennt der Spätheimkehrer kaum wieder. Sein Selbstmitleid entlädt sich in Aggression, immer wieder muss die Mutter ihre Kinder in Schutz nehmen. Vor allem die überkommenen Wertvorstellungen des früheren Bergarbeiters, der sich seiner Rolle als Erzieher und Ernährer nicht mehr gewachsen sieht, stehen dem Familienglück entgegen. Er missbilligt die gastronomische Tätigkeit seiner Frau, die bescheidenen Vergnügen des Backfischs Ingrid und die politischen Ansichten des Jungkommunisten Bruno. Matthias trifft der alte Ungeist am härtesten: "Ein deutscher Junge weint nicht." Dabei reichen Ordnung, Härte und Disziplin zum Überleben längst nicht mehr aus. Mit dem Fußball verhält es sich nicht anders.
Erziehung der Nation
Philosophen beschrieben diesen Sport als "Lebensschule" und in diesem Sinn inszeniert Regisseur Sönke Wortmann den Gewinn der Weltmeisterschaft als Etappensieg in der Erziehung einer Nation, die nach ihrem moralischen Bankrott wieder Anschluss an internationale Werte und Normen findet. Der militärisch geprägte Ton von Richard Lubanski findet sich auch bei Sepp Herberger. Doch seine militärischen Durchhalteparolen ("Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg") wird er nach und nach durch jene liberalen Weltformeln ersetzen, für die er bis heute bekannt ist ("Der Ball ist rund"). Und es wird ein Unangepasster sein, Helmut Rahn, der im Endspiel gegen die Ungarn das entscheidende Tor schießt. Mit dieser ideellen Anreicherung des sportlichen Themas orientiert sich Wortmann klar an den Sportfilmen Hollywoods. Der "reine" Fußballfilm scheitert meist an den unvereinbaren Dramaturgien von Medium und Sport. Die Verbindung missglückt Wortmann in einem entscheidenden visuellen Aspekt. Gegen die verrußte Tristesse des Kohlenpotts setzt er das sonnendurchflutete Postkartenidyll einer Schweiz in Technicolor. Dieser farbliche Kontrast schreit allzu offensichtlich nach einer rührseligen Aufhebung im Schlussbild: Die umjubelten Weltmeister fahren mit Volldampf in eine strahlende Zukunft und Matthias ist mit dabei.
Das erste Medienereignis der Nachkriegszeit
Die narrative Verknüpfung zeugt hingegen von einem beeindruckend modernen Verständnis. "Bern" war das erste Medienereignis der jungen Republik, die wenigen Filmschnipsel vom Endspiel bestimmen die Erinnerung daran bis heute und so wählt auch Wortmann einen medialen Zugang. Was immer in der Schweiz passiert, es erreicht die Menschen zuallererst über Funk und Fernsehen. In der Gaststätte der Lubanskis versammeln sich die Menschen vor dem eigens angeschafften Fernsehapparat, die Transistorradios laufen heiß. Filmisch perfekt inszeniert wird in einer Parallelmontage von Bild und Ton der Radiokommentar vom Halbfinale direkt auf den Bolzplatz in Essen-Katernberg übertragen. In den Gesichtern der kickenden Kinder erblickt der Zuschauer die Anspannung, die Verzweiflung über missglückte Aktionen, die Liebe zum Spiel. Vor allem aber liefert der bunte Medienmix aus aufgeregten Radioreportagen und liebevoll nachgeahmten Fernseheinspielungen den Ton, der Wortmann als Zeitkolorit wichtig ist: eine Mischung aus humoriger Biederkeit und entschlossenem Ärmelhochkrempeln.
Deutsche Bescheidenheit im Wirtschaftswunder
Auch in Herbert Zimmermanns legendärer Reportage vom Endspiel offenbart sich eine tiefe Bescheidenheit, die der Film in seiner Fassungslosigkeit erst begreifbar macht. So liefert Wortmanns kreativer Spielwitz das Gegengewicht zur deutschen Effizienz, die vor allem Herberger und sein treuer Adept Fritz Walter verkörpern. Der ehemalige Reichstrainer klügelt Mannschaftsaufstellungen aus, verwirrt Presse und Gegner, lässt den impulsiven Rahn auf der Ersatzbank schmoren, sorgt dafür, dass ausgerechnet er mit dem braven Walter ein Zimmer teilt – und wirkt gerade in jener Szene, die den "Geist von Spiez" am anschaulichsten mit dem Wirtschaftswunder verknüpft, wie ein kleiner Schuljunge: Der Sportartikelhersteller Adi Dassler präsentiert dem staunenden Taktiker seine revolutionären Schraubstollen. Ein paar mehr solcher Einfälle, und Wortmann hätte auf den etwas klammen Nachtrag im Abspann ("Zur gleichen Zeit begann das deutsche Wirtschaftswunder”) verzichten können.
Heimatfilm mit nostalgischen Schauwerten
Wortmann ist sich der immanenten Gefahr seines Films bewusst. Einem Großteil der Deutschen bescherte das Kollektiv der Walter-Elf eine kollektive Absolution, wir waren wieder wer, nämlich Weltmeister im Verdrängen. In der tragischen Figur Richard Lubanski hält der Regisseur die Erinnerung wach, auch über das emotionale Finale hinaus. Doch letztlich überwiegen humorvolle und nostalgische Momente. Die fußballresistente Frau eines Münchner Journalisten, die dem begriffsstutzigen Gatten Herbergers Schachzüge erläutert, wird Christa Lubanski in der Publikumskunst deutlich den Rang ablaufen. "Trümmerfrau" und "Fräuleinwunder", man kennt sie aus der Filmwelt der deutschen Fünfzigerjahre. So ist auch
Das Wunder von Bern ein familienfreundlicher Heimatfilm, der durch seine Reichhaltigkeit bezaubert, in seiner Bildsprache jedoch konservativ bleibt. Daran können auch einige gründlich misslungene Computersimulationen in den ansonsten glänzend nachgestellten Spielszenen nichts ändern. Aber würde ein Fußballfilm ohne nostalgische Schauwerte dem Sport und dessen gesellschaftlicher Bedeutung gerecht? In diesem Sinn handelt es sich bei
Das Wunder von Bern wohl um den ersten gelungenen Fußballfilm.
Autor/in: Philipp Bühler, 01.10.2003