Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte XI: Jenseits von Eden - Paradiese des Kinos
Das Paradies, über das wir reden, ist immer schon verloren. Zurückgewinnen kann es nur die Utopie. Zur Erklärung seiner existenziellen Not hat der Mensch sich die Geschichte vom Verlust des Paradieses durch eigene Schuld erzählt. Dann hat er alle Medien eingesetzt, um unentwegt wenigstens den Traum von der Wiederkehr des Paradieses als Überlebenskrücke zu produzieren. Doch auch im Film kontaminierte der Mensch jedes Paradies, das er (er)fand, sofort mit dem Keim des Verlustes. Der Mensch bleibt der Nachfahre Kains und lebt Jenseits von Eden, wie es Elia Kazans Film aus dem Jahr 1955 zeigt.
Ein ganzes Kino-Genre hat im Kern nichts anderes zum Thema als die Geschichte von der Entdeckung, Eroberung und damit gleichzeitig Zerstörung eines Paradieses: der Western. Setzen wir den historischen Auslöser dieser Gattung einmal dort an, wo es traditionell nicht geschieht, nämlich im Jahr 1492, so umfasst Ridley Scotts Die Eroberung des Paradieses (USA 1992) über die Reise des Christoph Kolumbus bereits alles, was historisch später nur noch rekapituliert wird: die Fahrt weg von der Zivilisation, die Ankunft am anscheinend paradiesischen Ort, die Zivilisierung dieses Ortes als Sündenfall und damit der Eintritt in die Epoche Kains, also des Mordes. Opfer sind jene Bewohner des Paradieses, die von den Philosophen des 18. Jahrhunderts sehnsüchtig und falsch als "edle Wilde" bezeichnet wurden. Zahlreiche andere Filme behandeln, mehr oder minder geglückt, denselben historischen Prozess, sei es Der Untergang des Sonnenreiches (GB/S 1969), Jericó (Venezuela 1990), Mission (GB 1986) oder auch Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (BRD 1972).
Was im Süden Amerikas begann, wurde im Norden vollendet. Je weiter die "Grenze" nach Westen gesteckt, die paradiesische Landschaft erobert und die Kinder des Paradieses vernichtet wurden, desto offensichtlicher scheiterten die Sehnsüchte von der Wiederkehr einer Landschaft der Unschuld, des Friedens und der mühelosen Versorgung. Das Filmgenre des Western deutete allerdings bis tief in die 60er Jahre hinein dieses Scheitern in die positive Qualität der Zivilisierung um. Hollywood hat Paradies-Träume für das Publikum stets ohne Glauben an das Paradies produziert. Doch selbst solche verlogenen Hollywood-Träume wie Die blaue Lagune (USA 1980), eine Robinsonade zweier schiffbrüchiger Pubertierender, müssen zwangsläufig vom Realitätsprinzip eingeholt werden. Seit Daniel Defoes immer wieder verfilmten Insel-Abenteuern des Robinson Crusoe, steht am Ende der Abschied vom Paradies. Der Mannschaft der "Bounty", die (mehrmals verfilmt) nach ihrer Meuterei im Palmenparadies der Südseeinseln Zuflucht findet, geht es zuletzt nicht anders. Das Paradies ist nur eine Durchgangsstation. Und die Insellage kann den Menschen auf seine animalischen und gar nicht paradiesischen Wurzeln zurück werfen, wie Peter Brook in Der Herr der Fliegen (GB 1963) zeigt, in dem eine Gruppe von Jugendlichen zum mörderischen Sozialverhalten der Urhorde zurück verwildert.
Die pazifischen Inseln waren sowohl in der Geschichte wie in der Filmgeschichte bevorzugte Projektionsflächen für abendländische Paradies-Sehnsüchte. Wie trügerisch solche Projektionen sind, hat F. W. Murnau in seinem berühmten Film Tabu (USA 1929) behandelt. Auch ohne das Eingreifen des weißen Mannes gibt es, trotz üppig wuchernder Paradiespflanzen, durch soziale Normen und religiöse Rituale keine paradiesischen Zustände mehr. Inzwischen sind diese Inseln zu Urlaubsparadiesen "alles inklusive" verkommen. Filmische Bilder aus Fernweh-Soaps à la "Traumschiff" haben daran ihren Anteil und verdrängen, dass längst Kriege darüber hinweg gegangen sind. Terrence Malicks umstrittener Kriegsfilm Der schmale Grat (USA 1998) hatte unter anderem die Zerstörung dieser Inseln als paradiesische Zufluchtsorte zum Thema. Überhaupt haben einige Filme aus ökologischem Bewusstsein heraus die Vernichtung der letzten Paradiese – hier verstanden als Natur-Ressourcen – behandelt, darunter John Boormans Der Smaragdwald (GB 1985), Werner Herzogs Wo die grünen Ameisen träumen (BRD 1984) oder Godfrey Reggios Koyaanisqatsi (USA 1982). Dem Menschen werden die letzten realen Traumzonen genommen. Die rosa Lagune, an die sich Giuliana in Antonionis Die rote Wüste (I 1964) aus Norditaliens verrotteter Industrielandschaft hinausträumt, hat heute kaum noch eine reale Entsprechung auf dem Globus.
Als alle Inseln der wirklichen Welt erforscht und alle Paradiese verloren waren, ersann sich der Mensch die Science Fiction als Gattung utopischer (Paradies-) Entwürfe. Aber auch die Paradiese auf fernen Planeten erweisen sich fast immer als trügerisch. Das Genesis-Projekt im zweiten Star Trek-Film Der Zorn des Khan (USA 1982) scheitert bei dem Versuch, Öd-Planeten in Paradies-Welten zu verwandeln, auf der ganzen Linie. So ist der letzte Filmheld, der immer noch versucht, die Illusion eines Paradieses aufrecht zu erhalten, der in den Dschungel verschlagene Lord Greystoke, genannt Tarzan. Das Paradies bleibt, was es immer war: eine poetische Erzähl-Konstruktion, wie es Ermanno Olmi in seinem wunderschönen Fernsehfilm Die Schöpfung eindrucksvoll vorgeführt hat.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 08.12.2006