Die berühmte Fotografie der kindlichen Anne mit dem dunklen Haarschopf, die jahrzehntelang das Buchcover der Schulausgabe von Das Tagebuch der Anne Frank zierte, hat über Generationen die Erinnerung an eines der bekanntesten Opfer des Nationalsozialismus geprägt. Hans Steinbichlers Zum Inhalt: Adaption des vor fast 70 Jahren erschienenen Buches reduziert die Protagonistin Anne Frank jedoch nicht auf die Opferrolle. Der Regisseur interessiert sich vielmehr für den Teenager, der unter dem Eindruck der Judenverfolgung in Europa den Anschein von Normalität zu wahren versuchte und in einem karierten Leinenbüchlein intime Gedanken mit der imaginären Freundin Kitty teilte.

Eine ganz normale 13-Jährige

Zwei Jahre versteckte sich Anne zusammen mit ihren Eltern Frank und Edith und ihrer Schwester Margot in dem Amsterdamer Hinterhaus in der Prinsengracht 263, bevor die Familie 1944 von der Geheimpolizei entdeckt und deportiert wurde. Der Film beginnt einige Jahre früher bei Annes Verwandten in der Schweiz, wo der Vater beschließt, mit seiner Firma in die vermeintlich sicheren Niederlande überzusiedeln. Doch mit dem Einmarsch der Wehrmacht verschlechtert sich die Lage zusehends. In Amsterdam versucht die 13-Jährige, trotz der Stigmatisierung durch den "Judenstern", das normale Leben eines Mädchens aus gutem Hause zu leben. Sie geht zur Schule, feiert mit Freundinnen ihren Geburtstag und lächelt, wenn die Nachbarsjungen auf der Straße obszöne Gesten in ihre Richtung machen. Als Margot deportiert werden soll, zieht die Familie im Juli 1942 in ein vorbereitetes Versteck im Hinterhaus der Firma ihres Vaters. Bald finden dort auch das Ehepaar van Daan mit seinem Sohn Peter sowie der Arzt Albert Dussel Unterschlupf. Bis zu ihrer Verhaftung am 4. August 1944 leben die acht Menschen auf 50 Quadratmetern.

Das Tagebuch der Anne Frank, Szene (© Universal)

Annes Entdeckungsreise

Das Leben im Versteck nimmt Einfluss auf Annes Persönlichkeitsentwicklung: Auf engstem Raum versucht sie, die Erfahrungen eines junges Mädchens zu sammeln. Sie durchlebt das Drama des Erwachsenwerdens. Zu Beginn des Films gesteht sie der introvertierten Margot, dass sie ihrer ersten Regelblutung entgegenfiebert, mit einem Taschenspiegel erkundet sie heimlich ihre Vagina. Im Versteck macht sie dann den 17-jährigen Peter zum Komplizen ihrer sexuellen Entdeckungsreise, gleichzeitig wendet sie sich in ihrem jugendlichen Trotz zunehmend von den fürsorglichen Eltern ab. Ihre Beziehung zur Mutter beginnt in der Enge des Hinterhauses zu leiden. Aber auch der Vater, in dem sie einen Vertrauten sieht, verbietet ihr das "Rumgeknutsche" auf dem Dachboden und verlangt, sie solle sich "wie eine 14-Jährige" aufführen. Sein Beharren auf Annes Kindlichkeit steht im Gegensatz zu den frühreifen Gedanken, die sie in ihrem Tagebuch aufschreibt.

Prozess der Selbstfindung

Fred Breinersdorfers Zum Inhalt: Drehbuch basiert auf der erweiterten Ausgabe von 2001, in die viele Passagen, die Otto Frank ursprünglich aus der heute weltberühmten Erstauflage gestrichen hatte, wieder aufgenommen wurden. So kommt der Film der realen Person Anne Frank näher und erfasst die alterstypische Mischung aus Unsicherheit und Geltungsbedürfnis, Ungeduld und Großmut. Diese Widersprüchlichkeit bestimmt auch ihr Verhältnis zu den Mitbewohnern im Versteck. Anders als Margot, die es allen recht zu machen versucht, legt sich Anne mit der anmaßenden Frau van Daan an, blickt auf Peter herab und beleidigt ihre Mutter, was sie in ihren Tagebucheinträgen später bereut.

Die Radioankündigung, dass die holländische Exilregierung nach dem Krieg private Aufzeichnungen der Bevölkerung veröffentlichen möchte, um an die Schrecken der Besatzung zu erinnern, lässt Anne aufhorchen. Fasziniert von dieser Idee ändert sie ihren Schreibstil und beginnt mit der Überarbeitung früherer Einträge. So wird aus dem intimen Protokoll allmählich ein literarisches Werk. In diesen an eine (noch) imaginäre Öffentlichkeit gerichteten Selbstdarstellungen spiegelt sich auch Annes Prozess der Selbstfindung.

Das Tagebuch der Anne Frank, Szene (© Universal)

Dramaturgische Freiheit

Auch Steinbichler nimmt sich die Freiheit, die literarische Quelle selbst noch einmal fiktionalisierend zu erweitern. Die Enge im Haus bricht der Film immer wieder mit Rückblenden auf, in denen sich Anne an die unbeschwerte Zeit in der Schweiz erinnert. In einer frühen Schlüsselszene am Strand widersetzt sie sich einer Gruppe junger Nazis, die sie und ihre Freundinnen aus dem Wasser vertreiben wollen. Leichtsinnig und zugleich mutig schreit Anne dem Anführer ihre Wut über die Ungerechtigkeit ins Gesicht.

Formal setzt der Film die Tagebuchvorlage in eine subjektive Erzählung um. Extreme Close-ups (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) und Zum Inhalt: Zooms auf Annes Gesicht stellen eine unmittelbare Nähe her, bis die ernsten Augen des Mädchens die Leinwand ausfüllen. Einige Passagen spricht die Hauptdarstellerin Lea van Acken auch direkt in die Kamera: Die Zuschauenden werden zu Annes Öffentlichkeit. So erwächst aus der Nähe eine Solidarität, die weit über die Ereignisse im Tagebuch hinausgeht. Denn die größte dramaturgische Freiheit nimmt sich der Film, wenn er am Ende Annes Weg nach Auschwitz nachzeichnet und schließlich zeigt, wie ihr im Konzentrationslager die Haare geschoren werden. Die filmische Darstellung ist durchaus kritisch zu bewerten, weil sie die Entindividualisierung der Opfer des Nationalsozialismus symbolisiert. In der Erinnerung an den Nationalsozialismus steht Anne Franks Tagebuch jedoch für das genaue Gegenteil.

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