Die Kanadierin Gabrielle ist 22 Jahre alt und sprüht vor Lebensfreude. Wenn sie singt, vergisst sie alles um sich herum und geht ganz in der Musik auf. In letzter Zeit sind die wöchentlichen Proben beim Chor "Les Muses" besonders aufregend, denn dort trifft sie Martin, in den sie sich verliebt hat. Doch die aufkeimende Beziehung stürzt ihr Umfeld in helle Aufregung. Denn Gabrielle und Martin haben das Williams-Beuren-Syndrom, sind also geistig behindert. Gabrielle lebt in einer Wohngemeinschaft. Laurent, ihr Betreuer, und ihre Schwester Sophie, zu der sie ein enges Verhältnis hat, unterstützen sie beim Entdecken ihrer Sexualität. Martin hingegen wird von seiner Mutter umsorgt, die sich gegen die Beziehung ausspricht – erst recht, nachdem die beiden auf Gabrielles Zimmer halbnackt erwischt wurden. Ein Gespräch zwischen allen Beteiligten führt zu keinem Ergebnis, doch Martins Mutter erlaubt ihm fortan nicht mehr, die Chorproben zu besuchen. Dabei wird dort gerade für ein großes Konzert mit dem – in Kanada sehr bekannten – Chansonier Robert Charlebois geübt. Als Gabrielle auch noch erfährt, dass Sophie zu ihrem Partner nach Indien ziehen will, ist sie verzweifelt.

Gemeinsame Erfahrung von Alltag und Intimität

Foto: Alamode Film

"Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" (Gabrielle, Louise Archambault, Kanada 2013) erzählt von den Sorgen und Nöten, vor allem aber von der Lebenslust und vom Begehren zweier junger behinderter Menschen. Statt der Unterschiede betont das dramaturgisch geschickt arbeitende Drehbuch die Gemeinsamkeiten von behinderten und nicht behinderten Menschen. Die Autorin und Regisseurin Louise Archambault zeigt Gabrielle bei ihrer Arbeit im Büro oder in Interaktion mit ihrer Schwester Sophie, mit der sie zum Friseur geht und gemeinsam kocht. Archambault erschafft dabei ein Gefühl großer Intimität. Auch die Darstellung des Verhältnisses zwischen Gabrielle und Martin überrascht mit Leichtigkeit und Direktheit. Die beiden wirken zunächst fast wie verspielte Kinder, deren Spiel übergangslos in erste sexuelle Erfahrungen übergeht.

Eine Hauptdarstellerin mit Charisma

Foto: Alamode Film

Nicht nur in diesen Szenen zahlt sich die große Natürlichkeit der Hauptdarstellerin Gabrielle Marion-Rivard aus, die tatsächlich das Williams-Beuren-Syndrom hat. Die Wahrhaftigkeit ihres Spiels beeindruckt. Gleichzeitig verfügt die Laiendarstellerin über eine starke Leinwandpräsenz und ein ansteckend fröhliches Charisma. Alexandre Landry, der Martin spielt, ist dagegen professioneller Schauspieler und versenkt sich mit bemerkenswerter Intensität in seine Rolle. Die enge Zusammenarbeit mit dem real existierenden Chor "Les Muses" und anderen kulturellen Einrichtungen sowie den dort arbeitenden Behinderten, Angehörigen und Betreuungspersonen, gibt dem Film darüber hinaus eine fast Zum Inhalt: dokumentarische Anmutung.

Unmittelbare Filmsprache per Handkamera

Foto: Alamode Film

Auch mit ihrer filmischen Sprache versteht es Louise Archambault, das Publikum ganz unmittelbar ins Geschehen zu ziehen. Dazu dient vor allem die Zum Inhalt: Handkamera, die immer nah an den Charakteren bleibt. Zum Inhalt: Nahaufnahmen und Halbtotalen dominieren die Zum Inhalt: Kadrage, oft folgt das Bild den Protagonisten/innen in langen Kamerafahrten. Archambault inszeniert in Zum Inhalt: Plansequenzen, vermeidet also unnötige Zum Inhalt: Schnitte. Im Gegensatz zu anderen Filmen, die sich dieser Technik bedienen, ist bei "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" aber kein angestrengter Kunstwille zu spüren, der die Aufmerksamkeit des Zuschauenden auf virtuos eingesetzte filmische Mittel lenken will. Archambaults Plansequenzen stehen vielmehr ganz im Dienst der Geschichte und rufen eine Unmittelbarkeit hervor, die den Film auch auf allen anderen Ebenen auszeichnet.

Eine Wohnung für sich – der Wunsch nach Eigenständigkeit

Foto: Alamode Film

So kann das Publikum dann auch die Konflikte gut nachvollziehen, die sich zunächst aus dem spezifischen Thema Behinderung ergeben. Diese zeigen sich zum Beispiel an Gabrielles eher distanziertem Verhältnis zu ihrer Mutter, einer erfolgreichen Musikerin, die ständig auf Reisen ist. Sie kann nicht verstehen, dass Gabrielle sich nach einer eigenen Wohnung sehnt – schließlich sei sie in ihrer Wohngruppe doch gut aufgehoben, und für die Betreuung sei gesorgt. Noch deutlicher tritt der Konflikt mit Martins Mutter zutage. Zwar bezieht der Film deutlich Stellung für Gabrielles und Martins Freiheit, eine sexuelle Beziehung einzugehen. Das zeigt vor allem die wunderschöne Beiläufigkeit der Schlusssequenz. Er weckt aber auch Verständnis für die Sorgen seiner Mutter und zeigt in einigen Szenen nicht zuletzt die Schwierigkeiten, die Gabrielle bei der eigenständigen Bewältigung des Alltags zu schaffen machen.

Ein schrankenloser Liebesfilm für alle

Zugleich jedoch funktioniert "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" auf ganz allgemeine Weise als Liebesfilm wie auch als Geschichte vom Zum Inhalt: Erwachsenwerden. Im Gefühlstumult der ersten großen Liebe, im Trennungsschmerz und dem Wunsch nach Autonomie und Selbstständigkeit können sich vor allem junge Zuschauer/innen gut wiederfinden. Diese Identifikationsmöglichkeit mit den behinderten Protagonisten/innen hebt die unsichtbare Schranke des Alltags im Kino auf. Dazu trägt nicht zuletzt auch die Zum Inhalt: Musik bei, deren Emotionalität verbindet. Robert Charlebois’ Chanson "Ordinaire" ("Gewöhnlich") bekommt, vom Chor gesungen, eine ganz eigene Bedeutung und verweist auch damit auf das, was behinderte und nicht behinderte Menschen nicht trennt, sondern miteinander verbindet.

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