Authentische Geschichte
"Jahrelang habe ich ein seltsames Geheimnis gehütet. Mein Schweigen habe ich mit zweihundert Schülern geteilt. Gestern ist mir einer davon begegnet.
Und für einen kurzen Augenblick war alles wieder da." Mit diesen Worten beginnt
The Third Wave, der Tatsachenbericht des ehemaligen Geschichtslehrers Ron Jones über die spektakulären Ereignisse, die sich 1967 auf seine Initiative hin an einer High School in Kalifornien ereigneten. Jones' Gruppenexperiment zu Diktatur und Nationalsozialismus bildete bereits die Grundlage für Morton Rhues Roman
Die Welle (The Wave, 1981) und den gleichnamigen US-amerikanischen Fernsehfilm von Alexander Grasshoff (1981). Nun hat Regisseur Dennis Gansel diese Geschichte authentisch auf die Leinwand gebannt und in die heutige Zeit verlegt.
Ausdrucksstarke Exposition
Der Film startet rasant: Wir sitzen sozusagen mit Rainer Wenger in dessen altem Skoda und hören lautstarken Punkrock, Wenger schmettert den Liedtext mit. Am Autofenster zieht eine undefinierbare deutsche Stadt vorüber. Wenger ist Lehrer an einem Gymnasium und schon sein Gang über den Schulhof verrät seine Coolness und Beliebtheit. Eine starke Exposition, die uns die charismatische Figur von Rainer – er lässt sich von den Schülerinnen und Schülern duzen – vorstellt. Das Wochenende steht bevor und es ist eine der Stärken des Films, sich genug Zeit zu lassen, um den Zuschauenden die Ausgangsposition für das Experiment, das am Montag zur Projektwoche
Staatsformen beginnen wird, darzustellen: Wir lernen die "angesagten" Schüler/innen wie Karo und ihren sportlichen Freund Marco kennen, den Underdog Tim mit seiner Sehnsucht nach Anerkennung und sehen den üblichen Ritualen des Partyfeierns zu.
Autokratie hautnah erleben
Am Wochenanfang wird Wenger nicht das Thema
Anarchie zugeteilt, zu dem er sich als ehemaliger Hausbesetzer berufen fühlt, sondern er soll mit den Schülern/innen die Staatsform
Autokratie erarbeiten. Und so entwickelt sich aus der Frage eines Schülers, wie es zum Nationalsozialismus in Deutschland überhaupt kommen konnte, spontan die Idee des Lehrers, sie Autokratie hautnah erleben zu lassen: "Ihr seid also der Meinung, dass 'ne Diktatur heute in Deutschland nicht mehr möglich wäre?"
Jeder neue Tag wird von nun an ganz im dokumentarischen Stil titelgebend eingeblendet, so dass es für das Publikum sinnfällig wird, in welch kurzer Zeit sich die Schulklasse den Regeln unterwirft, die Wenger für sie aufstellt:
Macht durch Disziplin –
Macht durch Gemeinschaft –
Macht durch Handeln. Innerhalb einer Schulwoche gerät Wengers Versuch völlig außer Kontrolle:
Die Welle, wie die Bewegung sich inzwischen nennt, gewinnt an Eigendynamik, die nicht mehr zu steuern ist. Immer mehr Jugendliche schließen sich an und je mehr hinzukommen, desto rigider werden Nichtmitglieder ausgegrenzt, bis hin zu gewalttätigen Übergriffen. Am Ende der Woche muss Wenger zu drastischen Mitteln greifen, um den Schülerinnen und Schülern ihr verhängnisvolles Handeln vor Augen zu führen.
Ästhetik der Dominanz und Ausgrenzung
Regisseur Dennis Gansel hatte bereits mit
Napola – Elite für den Führer (Deutschland 2004) versucht, sich dem Thema der Verführbarkeit junger Menschen zu nähern. Ein damals nicht ganz unumstrittener Film, schien er doch der Faszination der beschriebenen Machtreliquien zu erliegen. Aber schon mit
Napola hat er es geschafft, eine Erklärung dafür zu finden, warum so viele diesem Herrschaftsdenken verfallen konnten. Mit
Die Welle gelingt es Gansel sehr viel intensiver und darum auch beängstigender, die zugrunde liegenden psychologischen Strukturen herauszustellen.
Ästhetisch setzt der Regisseur dies beispielsweise mittels einer Kameraführung um, die durch Leni Riefenstahls Filme bekannt wurde: Die Bilder sind klar strukturiert, symmetrisch angeordnet und beinhalten konträre Positionen. Kameramann Torsten Breuer arbeitet häufig mit
Auf- oder Untersichten, um die Machtverhältnisse der jeweiligen Figuren zu dokumentieren. Jürgen Vogel, dem Darsteller des Rainer Wenger, fällt dabei eine zentrale Rolle zu. Zunehmend martialisch setzt die Kamera Vogel als Führer der Welle in Szene, indem sie ihn im markanten Profil zeigt oder von schräg unten seine Gestik einfängt. Ein anderes Mal folgen wir ihm einen langen leeren Gang durchs Schulgebäude, nur als ein dunkler Umriss erkennbar. Andere Konnotationen der Massenbewegung sind die weißen Hemden, zu denen sich die Mitglieder verpflichten. Wenn Karo dann als einzige in der Klasse ein rotes T-Shirt trägt, muss man nicht lange über ihre Rolle nachdenken. Auch ihr selber wird nun bewusst, dass sie sich offensichtlich ins Abseits manövriert hat.
Faszination der Macht
Die psychologischen Veränderungen, die dieses Experiment mit sich bringt, Gruppenzwang, Solidarität, Ausgrenzung und wachsende Aggressionsbereitschaft, schildert der Film glaubwürdig.
Man meint diese Jugendlichen zu kennen, denn Gansel bleibt sehr nah an der Realität, vermeidet Plattitüden und Klischees. Beinahe am stärksten beunruhigt jedoch der Wandel, den Wenger selber durchmacht: Er genießt seine Rolle als Führer offensichtlich immer mehr und bis zum Schluss zweifelt das Publikum, ob es ihm gelingt, den Versuch abzubrechen. Im Zeichen von Amokläufern und Schulgewalt ist das tragische Ende nur allzu realistisch. Einem Schüler wie Tim, der endlich einen Halt in dieser Bewegung gefunden hat, zieht deren Scheitern den Boden unter den Füßen weg. Da ist auch Wenger machtlos.
Die Welle ist ein beängstigender Film, der uns auf fatale Weise wieder auf die Frage zurück wirft: Wie hätte ich selbst gehandelt?
Autor/in: Katrin Hoffmann, Filmkritikerin und verantwortlich für die Sektion Kinderfilm beim Filmfest München, 15.02.2008
Mehr zum Thema auf kinofenster.de: