Kinofilmgeschichte
Die Mitläufer – Kinofilmgeschichte XXVIII
Juda Ben Hur hat sich mit der römischen Besatzungsmacht arrangiert. Er ist kein ausdrücklicher Befürworter, aber er leistet auch keinen Widerstand gegen die Römer wie viele andere seiner Landsleute in Palästina zur Zeit des Kaisers Tiberius. Mit einem Offizier der Besatzer ist er sogar gut befreundet. Aber ein kleines Missgeschick in Form eines herabfallenden Dachziegels bringt ihn in Ungnade, weil man ihm Vorsätzlichkeit unterstellt. Jetzt erst gehen ihm die Augen auf und er setzt sich mit den Gräueltaten auseinander, die im Land geschehen. Zunehmend wird er in ein großes historisches und mythologisches Geschehen verwickelt.
Ben Hur und die Gesellschaft
Ben Hur, der Roman von Lewis Wallace, wurde erstmals 1907 von Sidney Olcott verfilmt, dann von Fred Niblo 1924-26 – schon sehr monumental. Schließlich 1959 in der berühmten, mit elf Oscars ausgezeichneten Version von William Wyler. Vor lauter Kulissenzauber und religiösem Raunen ist dabei meistens der Blick auf die Geschichte eines Mannes zu kurz gekommen, der plötzlich entdeckt, dass er in unerträglichen gesellschaftlichen Verhältnissen lebt. Juda Ben Hur wendet sich im Lauf der Handlung aktiv gegen diese Verhältnisse. Als seine Familie in die Katastrophe gerissen wird, kann der Held dies allerdings nicht verhindern. Erlösung bietet nur das christliche Heilsversprechen seiner Zeit.
Der Prototyp des Mitläufers
Ben Hur ist der dramaturgisch überhöhte Prototyp eines Charakters, wie ihn auch der Arzt Nicholas Garrigan in
Der letzte König von Schottland verkörpert. Man kann diesen Prototyp als Mitläufer bezeichnen. Der Mitläufer gerät in gesellschaftliche Verhältnisse, vor deren politischen oder moralischen Konsequenzen er zunächst die Augen verschließt. Er ist in diesen Verhältnissen kein Protagonist und fühlt sich auch nicht so, denn er möchte von ihnen nur möglichst wenig behelligt werden. Meistens durch ein Ereignis gehen ihm die Verhältnisse plötzlich unter die Haut und fordern seine Positionierung ein. Er kann sich dann mit Anpassung in den Lauf der Geschichte schicken, diesen mehr oder weniger heroisch bekämpfen oder er geht darin unter, weil er zu spät erkennt, dass die Geschichte in die Katastrophe führt.
Die Dämonie der Anpassung
Die Geschichte des Films und die Geschichten der Filme greifen immer wieder auf diesen Prototyp zurück, auch wenn er nicht zu den weit verbreiteten Heldenfiguren gehört. 1913 hat Max Mack in dem deutschen Film Der Andere die beiden oben beschriebenen Seiten des Mitläufers in ein und dieselbe Person gelegt. Der Staatsanwalt Dr. Hallers folgt dem "gesunden Volksempfinden" und wendet sich dagegen, Schizophrenie als Grund für Schuldunfähigkeit anzuerkennen. Nach einem Unfall rebelliert sein Alter Ego gegen diese Position und er wird zum Verbrecher. Seine eigene medizinische Heilung führt zur Korrektur der früheren Meinung. Der Andere ist eine ins Symbolische und Dämonische gewendete Auseinandersetzung mit der Anpassungsbereitschaft einzelner Bürger/innen.
Zeichen der Zivilcourage
Viele Filme führen vor, wie ihr Personal an die Grenzen dieser Anpassung gerät, wie es sich krümmt und beugt, bis das Rückgrat zu sehr schmerzt und Position bezogen werden muss. Wsewolod Pudowkin erzählt in Die Mutter (UdSSR 1926) die Geschichte einer einfachen Arbeiterfrau, die das Waffenversteck ihres sozialistisch gestimmten Sohnes nur deshalb verrät, weil sie ihn vor der Verhaftung durch zaristische Polizisten bewahren möchte. Als er dennoch ins Gefängnis kommt, wird die Frau politisch aktiv. In der bekanntesten Sequenz des Films trägt sie einem Demonstrationszug die rote Fahne voran. Eine mehr private, strukturell aber ganz ähnlich gelagerte Geschichte der Zivilcourage erzählt Rainer Werner Fassbinder in Angst essen Seele auf (BR Deutschland 1973). Gegen ihr gesamtes soziales Umfeld bekennt sich eine ältere Frau zu ihren Gefühlen für einen jüngeren Marokkaner.
Washington und "Waterfront"
Oft sind es die Naiven, die in einem System lange funktionieren, bis sie endlich erkennen, dass sie vom System missbraucht werden – erst dann begehren sie auf. Einer der sympathischsten Rebellen der Filmgeschichte ist der ländliche Senator Jefferson Smith in Frank Capras Komödie Mr. Smith geht nach Washington (USA 1939). Angeekelt von der Korruption im amerikanischen Oberhaus, will er die Regierungshauptstadt schon verlassen, als er durch die Liebe zu einer Frau davon überzeugt wird, den Kampf noch einmal aufzunehmen. Jefferson Smith könnte das politische Vorbild für den Ex-Boxer Terry sein, der sich in Elia Kazans Die Faust im Nacken (On the Waterfront; USA 1954) in die Machenschaften der New Yorker Hafengewerkschaft verstrickt. Kurz bevor er selbst ganz korrumpiert ist, erhebt er sich gegen die Bosse und die gewalttätigen Machtstrukturen. Wie es oft in Filmen über rebellierende Mitläufer geschieht, wird Terry zu einer geschundenen Erlöser-Gestalt stilisiert.
Stoff für Propaganda
Die Figur des Angepassten, der seine Überzeugung wechselt, hat sich vom Kino stets auch propagandistisch ausplündern lassen – vor allem dann, wenn sich überzeugte Pazifisten plötzlich zu patriotischen Kriegsbefürwortern wandeln und umgekehrt. In Sergeant York von Howard Hawks (USA 1941) wird ein junger Farmer voller Ablehnung gegen das Militär an der Front des Ersten Weltkriegs zum Helden. In Ohm Krüger von Hans Steinhoff (Deutschland 1941) greift der englandfreundliche und friedliebende Sohn des südafrikanischen Buren-Präsidenten angesichts britischer Grausamkeiten schließlich doch zur Waffe. In Die grünen Teufel von John Wayne (USA 1968) wird ein skeptischer Journalist von der Notwendigkeit des amerikanischen Einsatzes überzeugt. Doch gerade die traumatische Erfahrung des Vietnamkriegs hat in den 1970er- und 1980er-Jahren den Skeptizismus im Hollywoodkino gefördert. Nun wurden diejenigen zu Helden, die als patriotische Mitläufer in den Krieg gezogen waren, um ihn schließlich politisch zu bekämpfen – allen voran die authentische Figur des behinderten Veteranen Ron Kovic in Oliver Stones Geboren am 4. Juli (USA 1989).
Die Zeit der Nazis
Eine Geschichtsepoche zeichnet sich durch Mitläufertum geradezu exemplarisch aus. Es ist die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Noch lange nach dem Ende des faschistischen Terrors wollten viele Staatsbürger/innen des Dritten Reichs von dessen Verbrechen nichts gewusst haben. Vielleicht hat die Epoche deshalb besonders viele Filme zum Thema inspiriert – und keineswegs ausschließlich deutsche. Zwar gab es bereits wenige Jahre nach dem Krieg einige Auseinandersetzungen mit Mitläufern/innen im bundesdeutschen Kino, etwa Wolfgang Staudtes Rosen für den Staatsanwalt über einen Schrecken erregenden NS-Juristen und seine stolpernde Nachkriegskarriere aus dem Jahr 1959. Doch die ersten großen Nazi-Mitläufer-Filme kamen aus dem Ausland.
Die Kollaborateure
1969 kam mit Bernardo Bertoluccis Der große Irrtum der italienische Diskussionsbeitrag zum Thema auf die Leinwand. Auch Bertolucci verfuhr exemplarisch und wählte einen Mann mit zwanghaftem Drang zur Anpassung als Hauptfigur, der vom System des Faschismus zerrieben wird. 1973 setzte sich der Franzose Louis Malle in Lacombe Lucien mit dem Tabuthema der französischen Kollaboration mit der nazi-deutschen Besatzungsmacht auseinander. Einem Bauernjungen wächst als Spitzel ungewohnte Macht zu. Auch diese Geschichte endet tragisch. 1976 griff Joseph Losey in Monsieur Klein den Stoff der Kollaboration nochmals auf und erzählte von einem französischen Profiteur an der Judenverfolgung, der nach einem langen Erkenntnisprozess die Identität eines Juden annimmt und nach Auschwitz deportiert wird.
Lehren aus der Geschichte
Zwei besonders beeindruckende deutsche Filmbeispiele des tragischen Mitläufers im Nationalsozialismus sind Leo Hiemers
Leni ... muss fort (1994) und Dennis Gansels
Napola – Elite für den Führer (2004). In
Leni ... muss fort möchte der kinderlos gebliebene Bergbauer Johan Aibele zunächst nichts mit dem Kind eines Wehrmachtsangehörigen und einer Jüdin zu tun haben, das eine katholische Ordensschwester in die Obhut seiner Frau gibt. Am Ende, als Leni bereits ins Konzentrationslager verschleppt wurde, verzweifelt Aibele an seiner Hilflosigkeit sowie an den brutalen Verhältnissen und begeht Selbstmord. In
Napola möchte der Arbeiterjunge Friedrich die Chance unbedingt nutzen, die sich ihm als gutem Boxer in der nationalsozialistischen Eliteanstalt bietet. Er wird erst durch Erfahrung klug und lässt sich nicht mehr ideologisch missbrauchen.
Schmerzhaftes Erwachen
Die meisten dieser Filme handeln vom Aufwachen in einer Situation, in die man nahezu träumerisch hineingestolpert ist. Fast immer ist das Erwachen schmerzhaft, manchmal schlägt der Schmerz in Tapferkeit um. So auch in Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Drama
Das Leben der Anderen, das im Februar 2007 mit dem Oscar für den Besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Einer verweigert das Spiel der Mächtigen, einer steigt aus der leichten Haltung der Anpassung aus. Filme können gar nicht genug von Zivilcourage erzählen. Denn sie wird weiterhin dringend gebraucht.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 08.03.2007
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