Nichts als Ärger mit der Liebe
Was ist bedeutsamer: Auf die Welt zu kommen oder zu sterben? Für die zwölfjährige Selma sind diese Pole unsrer Existenz eindeutig "Naturkatastrophen" und die dazwischenliegende Lebensspanne scheint ihr eine ziemlich verwirrende Angelegenheit zu sein. Das betrifft ganz besonders die Liebe, die – da ist sich Selma ganz sicher – nichts als Ärger bringt. Schließlich ist ihre eigene Mutter bei ihrer Geburt gestorben – auch das eine Folge der Liebe – und zwischen ihrer Tante Nora und deren Dauerverlobtem Richard fliegen ständig die Fetzen. Also hat Selma beschlossen, Wissenschaftlerin zu werden, vielleicht sogar den Nobelpreis zu gewinnen, in jedem Fall jedoch den Unwägbarkeiten menschlicher Leidenschaften mit emotionaler Kontrolle zu begegnen. Aber das erweist sich als gar nicht so einfach, wenn die eigenen Sehnsüchte allen Vorsätzen ein Schnippchen schlagen.
Pubertäre Wirrungen
Weite Landschaften und ein ewig blauer Himmel – Sommer irgendwo in einem norwegischen Dorf am Meer. Gemeinsam mit ihrer Mädchenclique vertreibt sich Selma die Zeit mit Fahrradfahren, Schwimmen oder Handy-Nachrichten, bis die einmütig gemiedenen Jungs plötzlich für ihre Freundinnen Elin und Ingun interessant werden. Als Elin mit ihrem Klassenkameraden Andy anbandelt, gerät die eingeschworene Mädchenbande plötzlich mächtig ins Wanken. Zumal Selma trotz aller Vorbehalte gegenüber dem anderen Geschlecht anerkennen muss, dass ihr der gut aussehende Andy nicht ganz gleichgültig ist. Humorvoll und tiefgründig schildert die auch als Autorin tätige norwegische Regisseurin Torun Lian in ihrem zweiten Spielfilm die Verunsicherungen der Pubertät aus der Sicht eines eigenwilligen jungen Mädchens. Dabei stellt Torun Lian geschickt Rollenklischees in Frage: Draufgängerisch hält Selma beim Fußballspielen locker einen Elfmeter der Jungs oder fasst eine Schlange mit der bloßen Hand. Aber vor dem Sich verlieben hat sie Angst. Mehr noch als für ihre Freundinnen ist für Selma die Umbruchphase von der Kindheit zur Jugend mit Schwierigkeiten gepflastert, eine unsichere Zeit in der alles in Veränderung gerät. Ihre trotzige Abwehr gegen das, was gemeinhin als "natürlichste Sache der Welt" bezeichnet wird, erscheint angesichts des chaotischen Liebeslebens der Erwachsenen, vor allem jedoch durch den Tod ihrer Mutter bei der Geburt nur allzu verständlich. Zugleich jedoch ist Selma neugierig auf die neuen Erfahrungen, die Liebe und Sexualität mit sich bringen.
Die Zeit ist reif
Episodisch, in langen Einstellungen, wunderbar fotografierten Bildern und eindringlichen, manchmal burlesken Situationen entwickelt sich die Filmhandlung. Von allen Seiten drängt das große Thema Liebe plötzlich in Selmas Leben. Nora und Richard wollen endlich heiraten, ein schwedischer Student beflügelt ihre Jung-Mädchenträume und gibt ihr ein Rätsel auf, dass sie alleine nicht lösen kann: "Warum ist das Innere der Milch schwarz?“"Als Andy sich offen für Selma zu interessieren beginnt, gar zum "Antrittsbesuch" bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter auftaucht, scheint Selma die Widerstände gegen das andere Geschlecht zunächst aufzugeben. Sie ist ständig mit dem liebenswerten Jungen unterwegs, fühlt sich glücklich mit ihm, hält ihn sich jedoch auf körperlicher Distanz. Keine Berührungen, kein Kuss – schulmeisterhaft doziert Selma stattdessen über Chromosomen, den Urknall oder über die Molekularstruktur von Wasser. Als dem geduldigen Andy schließlich der Geduldsfaden reißt und er wissen will, was sie für ihn empfindet, gibt Selma ihm den Laufpass. Aber dann dämmert ihr langsam, dass sie sich wohl doch verliebt hat.
Sinn und Sinnlichkeit
Torun Lian erzählt ihren Film aus Selmas Perspektive. Altklug und witzig kommentieren ihre philosophischen und naturwissenschaftlichen Betrachtungen aus dem Off über weite Strecken das Geschehen. So vernichtend Selmas Ansichten manchmal auch sind – die Bilder, die
Montage auch die klangvolle
Musik lesen zwischen den Zeilen und strafen die schnodderige Abwehrhaltung Lügen. Sinnlich folgt die Kamera Selmas Blick, der forschend über den nackten Körper des Schweden streift, den sie nachts heimlich beim Baden beobachtet, zeigt, wie zärtlich sie Andy anschaut. Jenseits der Worte und der Taten wird so eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Gefühle, sichtbar.
Psychologisch feinfühlig
Einfühlsam und authentisch verkörpern die beiden Hauptdarsteller/innen in ihrer ersten Filmrolle diese jungen Liebenden. Die aus über 2.000 Mädchen gecastete Julia Krohn versieht die kaltschnäuzige Selma mit jener grüblerischen Verschlossenheit, hinter der ihre Unsicherheit und Verletzlichkeit spürbar werden. Ruhig und zugleich selbstbewusst überzeugt Bernhard Naglestad als Andy. Dass die erwachsenen Figuren mehr oder weniger zur Staffage geraten, die Atmosphäre im Elternhaus von einer seltsamen Unverbindlichkeit geprägt ist oder das streitsüchtige Pärchen Richard und Nora schon groteske Züge aufweist, tut der psychologisch feinfühligen und leichthändigen Darstellung pubertärer Probleme keinen Abbruch. Dabei dürfte das Wechselbad von Ausgeliefertsein und trotziger Selbstbehauptung, das die Liebe häufig mit sich bringt, auch den Erwachsenen nicht ganz fremd sein. Am Ende jedenfalls weiß Selma nicht nur, warum die Milch innen schwarz ist. Sie hat herausgefunden, dass Geburt und Tod vielleicht doch nicht die wichtigsten Dinge im Leben sind, sondern dass es noch eine viel größere (und schönere) "Naturkatastrophe" gibt.
Autor/in: Ula Brunner, 06.02.2007